Joachim Schummer: Vorlesung im Sommersemester 1999:

Einführung in die Geschichte und Philosophie der Physik

Kooperationsveranstaltung der Fakultäten für Physik und für Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Karlsruhe (TH)


6. Vorlesung:

Mechanische Naturphilosophie - Klassische Mechanik

Copyright Ó 1999 by Joachim Schummer



Vorlesungsüberblick

1. Begriffsgeschichtlicher Hintergrund: ‘Mechanik’

2. Mechanische Naturphilosophie

2.1 Descartes’ spekulativer Systementwurf

2.2 Varianten der mechanischen Naturphilosophie

2.2.1 Philosophiehistorischer Hintergrund

2.2.2 Korpuskulartheoretische Differenzen über die Grundeigenschaften der Materie

2.2.3 Erkenntnistheoretische und metholologische Differenzen

2.3 Mechanistisches Weltbild und Religion

3. Newton und die Entwicklung der klassischen Mechanik

3.1 Newtons mathematische Physik

3.2 Newtons Wirkungsgeschichte

Wichtige Personen

Galileo Galilei (1564-1642)
René Descartes (1596-1650)
Robert Boyle (1627-91)
Christian Huygens (1629-95)
Isaac Newton (1643-1727)
Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716)

Pierre-Louis Moreau de Maupertuis (1698-1756)
Leonhard Euler (1707-1783)
Jean le Rond d’Alembert (1717-1783)
Joseph Louis Lagrange (1736-1813)
Pierre-Simon Laplace (1749-1827)


Materialien


Vergleich Aristoteles-Descartes

Aristoteles

Descartes

4 Ursachen mit Priorität der Zweckursache 1 Ursache: Kausalursache
4 Arten von Veränderung Orts- und Gestaltveränderung
Wahrnehmungsqualitäten mit Priorität der Grundqualitäten (warm-kalt, hart/fest-weich/flüssig) Größe, Gestalt und Bewegung
Naturding als Einheit von Stoff- und Formprinzip Naturding als Einheit von räumlicher Ausdehnung und Gestalt

  


Descartes Naturgesetze

 Erhaltungssatz: Erhaltung der Quantität von Materie und Bewegung, gewährleistet durch die Vollkommenheit des unverändlichen Gottes.

1. Gesetz: Jede Korpuskel oder Korpuskelanballung verharrt ohne äußere Ursache in ihrem Zustand der Größe, Gestalt und Bewegung oder Ruhe.

2. Gesetz: Jeder materielle Körper im Bewegungszustand strebt nach Fortsetzung der Bewegung nur in geradliniger Richtung, nie in gekrümmter Bahn.

3. Gesetz: Regeln für Quantität und Richtung der Bewegungsgröße nach Zusammenstoß von Korpuskeln (Stoß- bzw. Druckgesetze)

 


Mechanistisches Reduktionsprogramm

Wahrnehmungsqualitäten
z.B. Farben, Geräusche, Wärme-Kälte, Licht, Geruch, Geschmack
Druck-/Stoßwirkung von Korpuskeln auf Sinnesorgane
stoffliche Verschiedenheiten und Umwandlungen Einheitsstoff der Korpuskeln,
diversifiziert nach Größe, Gestalt, Lage;
veränderlich über wechselnde Zusammenballungen (und ‘Abrieb’)
Fernkräfte:
Gravitation, Magnetismus und Elektrizität,
Stoß-/Druckwirkung durch fein-korpuskulare Ströme (Äther)
Lebenskräfte zur Organisation und Bewegung von Lebenwesen mechanische Automaten


 

Newtons mathematische Physik

Grundbegriffe, z.B.:

Axiome

  1. Jeder Körper verharrt im Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen linearen Bewegung, solange er nicht durch wirkende Kräfte gezwungen wird, seinen Zustand zu ändern. [ vis inertia: passive Trägheitskraft]
  2. Die Änderung der Bewegung ist proportional der wirkenden Kraft und erfolgt längs der Geraden, in der die Kraft wirkt. [F ~ dv/dt, implizit: F = m a ]
  3. Zu einer Wirkung besteht immer eine entgegengesetzt gerichtete und gleiche Gegenwirkung, oder: Die Wirkungen zweier Körper aufeinander sind stets gleich und von entgegengesetzter Richtung.

 Entwicklung des allgemeinen Gravitationsgesetzes

Zentrifugalkraft = Zentripedalkraft: FZp = m v2/r =m 4p 2 r/T2

nach dem 3. Keplerschen Gesetz: T2 ~ r3

Þ Zentripetalkraft: FZp ~ m/r2

zwischen 2 Massen m1 und m2 mit allgemeiner Gravitationskonstante G:

FG = G m1m2/r2

 Erklärung von Galileis Fallgesetz als Näherung

Galilei: Körper beliebiger Masse fallen gleich schnell nach:

s~t2 Û v~t Û dv/dt = konst.

Newton: konst. Beschleunigung entspricht konstanter Kraft: F = m1 dv/dt

Unter der Voraussetzung: schwere Masse = träge Masse: F = FG

Þ dv/dt = G m2/r2 (= konst. für kleine Änderungen von r)


  
 

Literatur

Siehe Literatur zur 5. Vorlesung, sowie

Companion to the History of Modern Science, hrsg. v. R.C. Olby, G.N. Cantor, J.R.R. Christie, M.J.S. Hodge, London-New York 1990:

Hooykaas, R.: "Das Verhältnis von Physik und Mechanik in historischer Hinsicht", in: Selected Studies in History of Science, Coimbra 1983, S. 167-89.

Laßwitz, K.: Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis Newton, 2 Bde., Hamburg, Leipzig 1890 [Nachdruck: Hildesheim 1984].

Mason, St.F.: "Die wissenschaftliche Revolution und die protestantische Reformation", in: Geschichte der Naturwissenschaft, Stuttgart, Kröner, Kap. 16.