Joachim Schummer: Vorlesung im Sommersemester 1999:
Kooperationsveranstaltung der Fakultäten für Physik und für Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Karlsruhe (TH)
2. Vorlesung:Griechische Klassik: Physik als Naturphilosophie bei Aristoteles |
Copyright Ó 1999 by Joachim Schummer
Aristoteles’ Leben im Spannungsfeld der Politik
Politischer Kontext | Biographische Daten | |
404 | Ende des Peleponesischen Krieges, Athen unter Spartas Herrschaft |
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384 | Geburt des A. in Stagira, Makedonien | |
367 | Eintritt in die ‘Akademie’ Platons in Athen | |
357 | Philipp von Makedonien beginnt Eroberungen in Griechenland | Makedonier geraten zunehmend unter politischen Druck in Athen |
347 | Demosthenes setzt sich in Athen für Krieg gegen Makedonien durch | Tod Platons, A. verläßt fluchtartig Athen |
338 | Niederlage Griechenlands | |
347-336 | Reise nach Kleinasien, Heirat 3 Jahre Erzieher von Alexander, zoologische Studien |
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336-323 | Alexander übernimmt die Herrschaft, erobert das ‘Alexanderreich’ | A. kehrt 335 nach Athen zurück |
323 | Tod Alexanders, das Alexanderreich zerfällt | A. verläßt fluchtartig Athen |
322 | Tod des A. auf Euböa |
Überblick über naturphilosophischen Schriften des Aristoteles
Physikvorlesung (8 Bücher), z.T. überlappend mit Metaphysik (14 Bücher):
Grundbegriffe und Prinzipien zum Verständnis der Natur
Beschreibung und Erklärung von Phänomenen der nichtbelebten Natur
Biologische Schriften
Außerdem zahlreiche Abhandlungen zur:
2. Grundbegriffe der Aristotelischen Naturphilosophie
2.1 Physis-Physik
Etymologie: Dt. ‘Physik’ ® gr. ‘physiké’, Lehre von der physis (lt. natura)
‘physis’ ® ‘phýo’ (wachsen lassen, hervortreiben)
physiké: Lehre von den Wachstums- und Werdeprozessen
Aristoteles’ Physik:
Beschreibung, Klassifikation und Erklärung von regelhaften Prozessen (Veränderung, Entstehung) der sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände, die ihre Bewegungsursache in sich selber tragen (die selbstbewegt sind), i.U. zu menschlichen Artefakten.
2.2 Ursachenlehre
Physikalische Erklärungen als befriedigende Antworten auf Warum-Fragen: Ursachen.
4 Arten von Warum-Fragen ® 4 Arten von Ursachen:
1. Beispiel: Warum schneidet das Messer Papier?
2. Beispiel: Warum blüht eine Pflanze?
Aristoteles’ Teleologie: Regelhafte natürliche Prozessen folgen einem zielgerichteten Ablaufprogramm; Physik muß in erster Linie Zweckursache benennen.
2.3 Was ist Veränderung?
4 Arten der Veränderung:
Exkurs: Veränderungskontinuum und Zenonische Paradoxien (s.u.)
Grundsätze und Prinzipien der Veränderung
Exkurs: Bewegungsparadoxie von Zenon: "Achilles und die Schildkröte"
Zenon:
Achilles müßte in endlicher Zeit unendliche viele Schritte (Intervalle) durchlaufen, um die Schildkröte nur einzuholen.
Überholen kann zwar sinnlich wahrgenommen werden, ist aber denkunmöglich.
Was nicht widerspruchsfrei gedacht werden kann, ist nicht wirklich.
Konsequenz: Bewegungen sind nicht wirklich.
Aristoteles’ Antwort:
3.1 Die Aristotelische Elementenlehre
1. Konzeption der Elemente aus materiellen Grundqualitäten
Thermisches Begriffspaar: warm–kalt: aktive Eigenschaften (Zusammenziehen, Auseinandertreiben)
Mechanisches Begriffspaar: feucht/weich–trocken/hart: passive Eigenschaften (Formbarkeit)
Entstehen und Vergehen ist die Umwandlung der Elemente ineinander,
z.B. Verdampfen:
Wasser (feucht, kalt) + Feuer (trocken, warm) ® Luft (feucht, warm)
Was ist ‘der Stoff’ der Elementumwandlung? [s.u.]
2. Argumention gegen den Atomismus (gegen die Existenz des Vakuums)
Annahme: Materie besteht aus kleinen unteilbaren, unveränderlichen Teilchen (=Atome).
Konsequenz: Jede sinnliche wahrnehmbare Veränderung müßte als Ortsbewegung der Atome im leeren Raum beschrieben werden.
Vorteil: Die Beschreibung von Veränderungen vereinfacht sich drastisch.
Frage: Was ist der leere Raum im Unterschied zu Materie?
Antwort: Materie ist Seiendes, der leere Raum ist Nicht-Seiendes.
Problem: Der Atomismus muß die Existenz des leeren Raum voraussetzen, was widersprüchlich ist: "Nicht-Seiendes ist."
3.2 Der systematische Aufbau der materiellen Welt (Hylemorphismus)
Stoffprinzip | Formprinzip | konkreter Gegenstand |
Erste Materie (eigenschaftslos) | Grundqualitäten | Elemente |
Elemente | Mischungsverhältnisse | homogene Stoffe |
homogene Stoffe | räumliche Verteilung | heterogene Stoffe |
heterogene Stoffe | Gestalt (Funktion) | Gebilde (z.B. Körperorgane) |
Körperorgane | Funktionsplan | Körper |
Körper | Seele (Bewegungsprinzip) | Lebewesen |
Fixsternhimmel | erstes Bewegungsprinzip (Gott) | ewige Himmelsbewegung |
3.3 Der Aufbau des Kosmos
3.4 Dynamik der Ortsbewegungen
Grundsätze
Klassifikation der Ortsbewegungen
1. Translunare Bewegungen:
Kreisbewegung der Himmelskörper, indirekt verursacht durch unbewegten Beweger.
2. Supralunare Bewegungen:
2.1 natürliche Bewegungen
2.2 künstliche Bewegungen
4. Aristotelische vs. neuzeitliche mechanistische Naturphilosophie (Auszug)
Aristotelische Philosophie |
Mechanistische Philosophie |
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Ursachenlehre | 4 Ursachen mit Primat der Zweckursache | nur Wirkursache |
Veränderungsarten | 4 Arten der Veränderung | nur Ortsveränderung |
Grundqualitäten | warm–kalt, fest–flüssig | Größe, Gestalt, Bewegung, Zahl |
Materietheorie | Elementenlehre | Atomismus/ Korpuskulartheorie |
Raumtheorie | nicht-isotroper Raum (natürliche
Orte); Ort als Umhüllung von Körpern |
leerer isotroper ‘Gefäßraum’ |
Kosmologie | Erde unbewegt im Zentrum von
konzentrischen Sphären der Himmelskörper; Unterschied zwischen sub- und translunaren Bewegungsgesetzen |
Sonne im Zentrum, Erde dreht
sich und bewegt sich auf Elipsenbahn; Universelle Bewegungsgesetze |
Dynamik der Ortsbewegung | ‘Verursachungsprinzip’ (Impetus?); lebewesen-, körper- und stoffspezifische Bewegungskräfte |
Trägheitsprinzip; universelle Gravitationskraft |
Letzte Bewegungsursache | Reflexives Denken (Gott) ist unbewegtes Bewegungprinzip der Kreisbewegungen des Himmels | Gott als Schöpfer und kausaler Impulsgeber des gesamten Kosmos |