Joachim Schummer: Vorlesung im Sommersemester 1999:

Einführung in die Geschichte und Philosophie der Physik

Kooperationsveranstaltung der Fakultäten für Physik und für Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Karlsruhe (TH)


2. Vorlesung:

Griechische Klassik: Physik als Naturphilosophie bei Aristoteles

Copyright Ó 1999 by Joachim Schummer



Vorlesungsüberblick

1. Einleitung

1.1 Wozu Aristotelische Naturphilosophie?

1.2 Aristoteles’ Leben im Spannungsfeld der Politik

1.3 Überblick über naturphilosophischen Schriften

2. Grundbegriffe der Aristotelischen Naturphilosophie

2.1 Physis-Physik

2.2 Was sind Ursachen?

2.3 Was ist Veränderung?

2.3.1 Arten der Veränderung

2.3.2 Veränderungskontinuum und Zenonische Paradoxien

2.2.4 Prinzipien der Veränderung

3. Aufbau und Dynamik der materiellen Welt

3.1 Elementenlehre

3.1.1 Konzeption der Elemente aus materiellen Grundqualitäten

3.1.2 Argumente gegen den Atomismus

3.2 Der systematische Aufbau der materiellen Welt

3.3 Der Aufbau des Kosmos

3.4 Dynamik der Ortsbewegungen

4. Wirkungsgeschichte und Vergleich mit mechanistischer Naturphilosophie


Materialien


Aristoteles’ Leben im Spannungsfeld der Politik

  Politischer Kontext Biographische Daten
404 Ende des Peleponesischen Krieges,
Athen unter Spartas Herrschaft
 
384   Geburt des A. in Stagira, Makedonien
367   Eintritt in die ‘Akademie’ Platons in Athen
357 Philipp von Makedonien beginnt Eroberungen in Griechenland Makedonier geraten zunehmend unter politischen Druck in Athen
347 Demosthenes setzt sich in Athen für Krieg gegen Makedonien durch Tod Platons, A. verläßt fluchtartig Athen
338 Niederlage Griechenlands  
347-336   Reise nach Kleinasien, Heirat
3 Jahre Erzieher von Alexander,
zoologische Studien
336-323 Alexander übernimmt die Herrschaft, erobert das ‘Alexanderreich’ A. kehrt 335 nach Athen zurück
323 Tod Alexanders, das Alexanderreich zerfällt A. verläßt fluchtartig Athen
322   Tod des A. auf Euböa


Überblick über naturphilosophischen Schriften des Aristoteles

Physikvorlesung (8 Bücher), z.T. überlappend mit Metaphysik (14 Bücher):

Grundbegriffe und Prinzipien zum Verständnis der Natur

Beschreibung und Erklärung von Phänomenen der nichtbelebten Natur

Biologische Schriften

Außerdem zahlreiche Abhandlungen zur:


2. Grundbegriffe der Aristotelischen Naturphilosophie

2.1 Physis-Physik

Etymologie: Dt. ‘Physik’  ®   gr. ‘physiké’, Lehre von der physis (lt. natura)

physis’  ®   ‘phýo’ (wachsen lassen, hervortreiben)

physiké: Lehre von den Wachstums- und Werdeprozessen

Aristoteles’ Physik:

Beschreibung, Klassifikation und Erklärung von regelhaften Prozessen (Veränderung, Entstehung) der sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände, die ihre Bewegungsursache in sich selber tragen (die selbstbewegt sind), i.U. zu menschlichen Artefakten.

2.2 Ursachenlehre

Physikalische Erklärungen als befriedigende Antworten auf Warum-Fragen: Ursachen.

4 Arten von Warum-Fragen  ®   4 Arten von Ursachen:

1. Beispiel: Warum schneidet das Messer Papier?

  1. Weil das Messer eine scharfe Klinge hat: Formursache
  2. Weil das Material des Messers härter ist als Papier: Stoffursache
  3. Weil das Messer zum Schneiden hergestellt wurde: Zweckursache
  4. Weil das Messer Spannungspitzen auf der Papierkante erzeugt: Wirkursache

2. Beispiel: Warum blüht eine Pflanze?

  1. biochemischer Wirkungsmechanismus der Pflanzeninhaltsstoffe: Wirk- und Stoffursache
  2. Fortpflanzung, Reproduktion der Pflanzengestalt nach innerem Programm: Zweck- und Formursache

Aristoteles’ Teleologie: Regelhafte natürliche Prozessen folgen einem zielgerichteten Ablaufprogramm; Physik muß in erster Linie Zweckursache benennen.

2.3 Was ist Veränderung?

4 Arten der Veränderung:

Exkurs: Veränderungskontinuum und Zenonische Paradoxien (s.u.)

Grundsätze und Prinzipien der Veränderung


Exkurs: Bewegungsparadoxie von Zenon: "Achilles und die Schildkröte"

 

Zenon:

Aristoteles’ Antwort:

  1. Bewegungkontinuum besteht nur potentiell (nicht wirklich) aus unendlich vielen Teilen.
  2. Punkte sind keine Teile eines Kontinuums.
  3. Die Kontinua von Bewegungszeit, Bewegungsstrecke und Bewegung sind isomorph.


 3.1 Die Aristotelische Elementenlehre

1. Konzeption der Elemente aus materiellen Grundqualitäten

  1. sinnlich wahrnehmbare, tastbare Eigenschaften
  2. Oberbegriffe für alle tastbaren Eigenschaften
  3. Gegensatzpaare zur Beschreibung von Veränderung
  4. aktive und passive Eigenschaften für stoffliche Reaktion

 

Thermisches Begriffspaar: warm–kalt: aktive Eigenschaften (Zusammenziehen, Auseinandertreiben)

Mechanisches Begriffspaar: feucht/weich–trocken/hart: passive Eigenschaften (Formbarkeit)

Entstehen und Vergehen ist die Umwandlung der Elemente ineinander,

z.B. Verdampfen:

Was ist ‘der Stoff’ der Elementumwandlung? [s.u.]

 

2. Argumention gegen den Atomismus (gegen die Existenz des Vakuums)

Annahme: Materie besteht aus kleinen unteilbaren, unveränderlichen Teilchen (=Atome).

Konsequenz: Jede sinnliche wahrnehmbare Veränderung müßte als Ortsbewegung der Atome im leeren Raum beschrieben werden.

Vorteil: Die Beschreibung von Veränderungen vereinfacht sich drastisch.

Frage: Was ist der leere Raum im Unterschied zu Materie?

Antwort: Materie ist Seiendes, der leere Raum ist Nicht-Seiendes.

Problem: Der Atomismus muß die Existenz des leeren Raum voraussetzen, was widersprüchlich ist: "Nicht-Seiendes ist."


3.2 Der systematische Aufbau der materiellen Welt (Hylemorphismus)  

Stoffprinzip Formprinzip konkreter Gegenstand
Erste Materie (eigenschaftslos) Grundqualitäten Elemente
Elemente Mischungsverhältnisse homogene Stoffe
homogene Stoffe räumliche Verteilung heterogene Stoffe
heterogene Stoffe Gestalt (Funktion) Gebilde (z.B. Körperorgane)
Körperorgane Funktionsplan Körper
Körper Seele (Bewegungsprinzip) Lebewesen
     
Fixsternhimmel erstes Bewegungsprinzip (Gott) ewige Himmelsbewegung

  


3.3 Der Aufbau des Kosmos

  

   


3.4 Dynamik der Ortsbewegungen

 Grundsätze

Klassifikation der Ortsbewegungen

1. Translunare Bewegungen:

Kreisbewegung der Himmelskörper, indirekt verursacht durch unbewegten Beweger.

2. Supralunare Bewegungen:

2.1 natürliche Bewegungen

2.2 künstliche Bewegungen

 


 4. Aristotelische vs. neuzeitliche mechanistische Naturphilosophie (Auszug)

 

Aristotelische Philosophie

Mechanistische Philosophie

Ursachenlehre 4 Ursachen mit Primat der Zweckursache nur Wirkursache
Veränderungsarten 4 Arten der Veränderung nur Ortsveränderung
Grundqualitäten warm–kalt, fest–flüssig Größe, Gestalt, Bewegung, Zahl
Materietheorie Elementenlehre Atomismus/ Korpuskulartheorie
Raumtheorie nicht-isotroper Raum (natürliche Orte);
Ort als Umhüllung von Körpern
leerer isotroper ‘Gefäßraum’
Kosmologie Erde unbewegt im Zentrum von konzentrischen Sphären der Himmelskörper;
Unterschied zwischen sub- und translunaren Bewegungsgesetzen
Sonne im Zentrum, Erde dreht sich und bewegt sich auf Elipsenbahn;
Universelle Bewegungsgesetze
Dynamik der Ortsbewegung ‘Verursachungsprinzip’ (Impetus?);
lebewesen-, körper- und stoffspezifische Bewegungskräfte
Trägheitsprinzip;
universelle Gravitationskraft
Letzte Bewegungsursache Reflexives Denken (Gott) ist unbewegtes Bewegungprinzip der Kreisbewegungen des Himmels Gott als Schöpfer und kausaler Impulsgeber des gesamten Kosmos

 


  
 Literatur

Werke:

  • Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung, hrsg. von E. Grumbach, H. Flashar, Darmstadt (WBG).
  • The Complete Works of Aristotle, Revised Oxford Translation, hrsg. von J. Barnes, Princeton (Princeton Univ. Press) 1984.
  • Einführungen in Aristoteles’ Gesamtphilosophie

  • Barnes, J.: Aristoteles. Eine Einführung, Stuttgart (Reclam) 1992 (i.O.: Aristotle, Oxford 1982).
  • Ackrill, J.L.: Aristoteles. Eine Einführung in sein Philosophieren, Berlin 1985.
  • Düring, I.: Aristoteles. Darstellung und Interpretation seines Denkens, Heidelberg 1966.
  • Zu Aristoteles’ Naturphilosophie

  • Craemer-Ruegenberg, I.: Die Naturphilosophie des Aristoteles, Freiburg-München (Alber) 1980. [sehr gute Einführung]
  • Wieland, W.: Die Aristotelische Physik, Göttingen 1962. [anspruchsvolle Analyse der naturphilosophischen Methode des A.]
  • Solmsen, F.: Aristotle’s System of the Physical World. A Comparison with his Predecessors, Ithaca 1960. [Gesamtinterpretation der wichtigsten naturphil. Schriften des A. im Verlgeich zur Vorsokratik und zu Platon.]
  • Seeck, G.A. (Hrsg.) Die Naturphilosophie des Aristoteles, Darmstadt 1975. [wichtige Aufsatzsammlung zu verschiedenen Einzelthemen der Naturphil. des A. mit ausführlicher Bibliographie.]
  • Sarton, George: A History of Science, Bd. 1, Cambridge/MA 1959.

  •