Zur Semiotik der chemischen Zeichensprache:
Die Repräsentation dynamischer Verhältnisse mit statischen Mitteln

[Erschienen in: P. Janich & N. Psarros (Hg.): Die Sprache der Chemie, Würzburg (Königshausen & Neumann) 1996, S. 113-126. Copyright Ó 1996 by Joachim Schummer]

 

JOACHIM SCHUMMER
 

 

1. Einleitung: Warum die Etymologie nur ein Randphänomen der Sprachwissenschaften ist

Das Interesse der Chemiker an ihrer eigene Sprache galt früher in auffallendem Maße der Herkunft ihrer Namen. Mit etymologischer Gelehrsamkeit wurde der philologische Ursprung der Bezeichnungen insbesondere für Stoffe, aber auch für Geräte und Operationen bis hin zur Bezeichnung der Disziplin recherchiert (Z.B. DIELS 1924, WINDERLICH 1937 (mit ausführlicher Literatur), WOLFF 1971, LEVI 1985). Wo solche Studien nicht bloß die historische Tradition der Disziplin in beschaulicher Feierabendstimmung bewußt machen wollen, schleichen sich leider oft linguistische oder historische Naivitäten ein, wenn etwa "verderbte und mißverstandene Namen" (WINDERLICH 1937: 60) angeprangert oder alchemistische Homonymien und Polymorphismen belächelt werden (CROSLAND 1962). Würde es bei der Untersuchung der Sprache der Chemie nur um Nomenklaturfragen, also um Namen gehen, dann hätte man in der Tat das meisterliche Nomenklatursystem von der Reform von 1787 [1] bis zur kompetenten Verwaltung durch die IUPAC zu loben, und man könnte sich getrost auf Etymologisches bis Anektdotisches beschränken.

Doch die philosophische, semiotische und historische Untersuchung der Chemiesprache hat ganz andere Aufgaben als nur die Geschichte der Namen und Symbole zu erzählen (CORDIER 1928, WHIGHTMAN 1961, CROSLAND 1962, WALTER 1970, 1982, ROUVRAY 1977). Sie fragt z.B. nach den semiotischen Besonderheiten (d.h. nach der Syntax, Semantik und Pragmatik) der chemischen Konversations-, Fach- und Symbolsprache (STRÖKER 1960, BACHELARD 1974, MESTRALLET 1980, MOUNIN 1981, WEININGER 1989, LUISI und THOMAS 1990, HOFFMANN und LASZLO 1990, KRETZENBACHER 1992); sie untersucht bzw. repariert systematische Mehrdeutigkeiten und Zirkularitäten der Begriffsentwicklung im Rahmen der philosophischen Begründung oder der chemiedidaktischen Aufarbeitung und klärt chemische Grundbegriffe und Begriffsbildungsmethoden (PANETH 1931, WENINGER 1971, LÖFFLER 1979, JUST 1979, HAMMER 1982, OURISSON 1986, BUCK 1989, JANICH 1994, SCHUMMER 1994a, 1994b, 1995, PSARROS 1995b); versucht chemische Theorien, Zeichen oder Syntheseregeln in formale Sprachen zu transformieren, zu mathematisieren, zu kalkülisieren, zu axiomatisieren oder zu computerisieren (MULCKHUYSE 1961, WHITLOCK 1977, LÖFFLER 1979, KING 1983, PLATH 1988, BALZER et al. 1987, HETTEMA und KUIPERS 1988, LAUTH 1989, COREY und CHENG 1989, PSARROS 1995b); sie untersucht die rhetorische Funktion bei der Durchsetzung neuer Anschauungen oder Theorien (HANNAWAY 1975, DUNCAN 1981, ANDERSON 1984, 1985, ROBERTS 1991); und sie deckt strukturelle oder methodische Analogien zwischen Chemie und Linguistik auf (ZWICKY 1973, 1980, WALTER 1984, PEIRCE 1986ff., TURSMAN 1989, LASZLO 1993, MAYER 1995), die z.T. bis in die Anfänge der abendländischen Philosophie zurückreichen.[2] Im Rahmen einer philosophischen Tradition, welche (wie die Analytische Philosophie) die Welt allein unter dem Blickwinkel der Sprache betrachtet, wäre sogar jede philosophische Untersuchung der Chemie primär eine Untersuchung der chemischen Sprache.

Im vorliegenden Beitrag möchte ich die Strukturzeichensprache der Chemie aus semiotischer Perspektive untersuchen. Eine solche Untersuchung liegt - obwohl bisher versäumt - schon aus historischen Gründen nahe, denn der Begründer der philosophischen Semiotik, CHARLES S. PEIRCE, war zugleich ein ausgewiesener Chemiker und bei der Entwicklung seiner Semiotik nicht unwesentlich durch die Chemie beeinflußt (TURSMAN 1989). Ich werde zeigen, daß keiner der drei PEIRCEschen Zeichenkategorien (Symbol, Ikon, Index) hinreichend ist, um die Repräsentation chemischer Informationen durch einzelne Strukturzeichnungen befriedigend erklären zu können. Unter chemischer Information über einen Stoff x verstehe ich die Kenntnis entweder der Reaktions- bzw. Herstellungspotentiale von x, mit bestimmten Stoffen unter bestimmten Bedingungen zu anderen Stoffen zu gelangen, oder der Herstellbarkeitspotentiale von x, aus bestimmten Stoffen unter bestimmten Bedingungen x zu erhalten. Entscheidend ist dabei, daß chemische Informationen die logische Struktur von dynamischen Relationen bzw. Dispositionsrelationen aufweisen. Zur Repräsentation solcher Informationen über dynamische Stoffverhältnisse werde ich eine "analogische" Zeicheninterpretation vorschlagen und auf die problematischen Konsequenzen hinweisen, die sich aus Mißverständnissen der Zeichensprache für die Chemie ergeben.
 

2. Warum man Strukturzeichnungen nicht als Symbole interpretieren sollte

Ein Symbol ist (im Rahmen der PEIRCEschen Semiotik) ein konventionell vereinbartes Zeichen, das ein Objekt bezeichnet, ohne daß eine Ähnlichkeitsbeziehung (wie bei Ikonen) oder eine direkte indexikalische Verbindung (wie bei Indices) zwischen Zeichen und Objekt vorliegt(PEIRCE 1983: 64 ff.; 1986ff.). Chemische Beispiele für Symbole sind Stoffnamen wie "Alkohol", "Benzol", "Alanin" usw. Diese Namen sind durch Konventionen festgelegt und im Prinzip jederzeit durch neue Konventionen der scientific community ersetzbar, wie man z.B. heute anstelle von "Benzol" den Namen "Benzen" verwendet. Die Konventionen mögen zwar ursprünglich motiviert gewesen sein, worüber uns die Etymologie näheren Aufschluß geben kann, für die Bezeichnungsfunktion eines Symbols ist dies jedoch völlig unerheblich.

<< Abbildung 1: Strukturzeichnung zur Essigsäure >>

Wenn wir chemische Strukturzeichnungen (z.B. Abb. 1) als Symbole interpretieren, dann machen wir folgende Annahmen: Jede einzelne Strukturzeichnung muß zur korrekten Bezeichnungsweise wie ein konventioneller Name für sich gelernt werden. Das Stoffnamenvokabular im alphanumerischen Code wird einfach in einen unaussprechlichen Buchstaben-Strich-Code übersetzt. Die Symbolinterpretation der chemischen Strukturzeichnungen führt damit direkt in die - leider verbreitete - chemiedidaktische Katastrophe des Vokabellernens. Sie leidet aber auch unter enormen Erklärungsdefiziten, was für die vorliegende Argumentation wichtiger ist. Es bleibt nämlich geradezu rätselhaft, warum Chemiker auch solche Strukturzeichnungen korrekt verwenden und verstehen können, die sie nie zuvor gesehen haben. Wer ohne Kenntnis der Namenskonvention aus solchen Strukturzeichnungen ganze Geschichten über chemische Eigenschaften des bezeichneten Stoffes herauslesen kann, der sieht in dem Zeichen offenbar kein konventionelles Symbol, sondern eine Codierung von chemischen Informationen, die er zu entschlüsseln gelernt hat.

Nun werden in der Semiotik elementare und molekulare Zeichen unterschieden. Ein Zeichen ist molekular, wenn es in Bestandteile zerlegt werden kann, die selber im vollen Sinne Zeichen sind, sonst ist es elementar. Die Analogie zwischen Semiotik und Chemie ist hier so aufdringlich, daß man die Strukturzeichnungen fast schon automatisch in ihre semiotischen Elemente zerlegt, also in Buchstaben und Striche zur Bezeichnung von Atomsorten und Valenzen. Während die Buchstaben offensichtlich als Symbole zu interpretieren sind, scheinen einige Striche einen gewissen ikonischen Charakter zu besitzen: Die Linien verbinden die Atomsymbole wie chemische Bindungen die Atome. Darauf beruht vermutlich die Meinung, chemische Strukturzeichnungen seien als ikonische Zeichen zu interpretieren, die ich nun problematisieren werde.
 

3. Warum man Strukturzeichungen nicht als Ikone interpretieren sollte

Ein Ikon ist nach PEIRCE ein Zeichen, das seinen Objektbezug über Eigenschaften gewinnt, die Zeichen und Objekt gemeinsam haben (s.o.). Der Einfachheit halber wollen wir davon ausgehen, daß die zu bezeichnenden Objekte isolierte klassische Moleküle sind: sie besitzen weder intra- noch intermolekulare Dynamik, sondern bestehen aus unterscheidbaren klassischen Atomen in einer definierten geometrischen Annordnung, wobei alle Bindungen der Atome voneinander unabhängig sind. Ohne diese Annahmen dürfte es schwer sein, überhaupt einen ikonischen Bezug zwischen Strukturzeichnungen und Molekülen zu finden; mit diesen Annahmen bleibt der ikonische Bezug allerdings auf Modellobjekte beschränkt. Damit wir uns nicht in piktographische Details verlieren, sehe ich davon ab, daß es eine Vielfalt von Strukturzeichnungsgepflogenheiten gibt (vgl. z.B. HAMMER 1982, OURISSON 1986, HOFFMANN und LASZLO 1991), und gehe vereinfachend davon aus, daß die Strukturzeichnungen als exakte zweidimensionale Portraits solcher klassischen Moleküle interpretiert werden können. Die Frage ist also nicht, ob wir eine Strukturzeichnung im Prinzip als Ikon interpretieren können, denn das wird ja durch eine verbreitete Interpretationspraxis bestätigt. Die Frage lautet vielmehr, ob es gute Gründe gibt, dies nicht zu tun, wie wir auch gute Gründe gefunden haben, sie nicht als Symbole zu interpretieren.

In der Tat gibt es einen besonders schwergewichtigen Grund, der dagegen spricht (weitere Gründe geben z.B. LUISI und THOMAS 1990): Als ikonische Zeichen sind die Strukturzeichnungen nämlich ohne Information über stoffliche und insbesondere über chemische Eigenschaften, d.h., sie sind für chemische Zwecke praktisch genauso bedeutungsleer wie Symbole. Sie bezeichnen zwar Stoffe über den Umweg der Molekülmodelle, aber sie können aus logischen Gründen keine stofflichen Eigenschaften ikonisch repräsentieren. Denn voraussetzungsgemäß repräsentieren ikonische Zeichen von klassischen Molekülen eine geometrische Anordnung von Elementen, also nur strukturelle statische Eigenschaften. Alle Stoffeigenschaften sind aber dynamische Eigenschaften (s.o), die beschreiben, was mit einem Objekt passiert bzw. wie es sich verändert, wenn es bestimmten kontextuellen Bedingungen ausgesetzt wird; also z.B., ob es bei einem bestimmten mechanischen Druck zerbricht, wie es sich in bestimmten elektromagnetischen Feldern verhält oder wie es sich stofflich verändert, wenn es mit einem oder mehreren bestimmten Reagenzien zusammengebracht wird (SCHUMMER 1994b). Da die logischen Strukturen von dynamischen und statischen Eigenschaften grundverschieden sind, können also Strukturzeichnungen keine stofflichen Eigenschaften repräsentieren, solange man sie als Ikone interpretiert. Der arme Schüler muß sie wieder wie Vokabeln lernen, und es bleibt immer noch völlig rätselhaft, wie Chemiker aus Strukturzeichnungen Geschichten über chemische Eigenschaften des bezeichneten Stoffes lesen können.
 

4. Warum Strukturzeichnungen nicht als Indices interpretiert werden können

Ein Index ist nach PEIRCE ein Zeichen, das seinen Bezug zum bezeichneten Objekt durch eine direkte Verbindung, einen hinweisenden, kausalen oder nexalen Zusammenhang, gewinnt (s.o.). Faßt man Strukturzeichnungen als konkrete, raumzeitlich lokalisierbare Gebilde (als Sinzeichen in PEIRCE' Terminologie) auf, dann muß das bezeichnete Objekt selber ein individuelles raumzeitliches Gebilde sein. Mit einer Strukturzeichnung wird aber weder ein individuelles Molekül noch eine individuelle Stoffportion bezeichnet, sondern Molekülsorten oder Stoffe, also Gegenstandsmengen oder abstrakte bzw. intensionale Gegenstände - je nach dem, welche Semantik man bevorzugt.

Offensichtlich scheinen also die drei Zeichenkategorien (die PEIRCE noch mit metaphysischem Vollständigkeitsanspruch entwickelt zu haben glaubte) weder einzeln noch alle zusammen auszureichen, um die chemische Zeichensprache hinreichend zu verstehen.
 

5. Wie man dynamische Relationen durch statische Strukturzeichnungen systematisch repräsentieren kann

Die chemische Interpretation einer Strukturzeichnung besteht in den Worten des Chemikers QUINKERT (1992: 80) darin ", die Fülle potentieller Reaktionswege von oder zu dieser chemischen Verbindung zu oder von einer ersten, einer zweiten, einer dritten, einer n-ten chemischen Verbindung mit intellektueller Intuition zu erschließen." [3]

<< Abbildung 2: Schematische Darstellung der chemischen Zeicheninterpretation (Ausschnitt)>>

Gegenstand der Interpretation ist ein einzelnes Zeichen, die Strukturzeichnung sz0 (vgl. Abbildung 2). Der chemische Interpretationsprozeß besteht nun darin, ausgehend von diesem Zeichen, weitere Zeichen nach bestimmten Regeln zu generieren; und zwar einerseits alle Zeichen, die sich nach den Regeln aus sz0 erzeugen lassen (sz1 ... szn), und andererseits alle Zeichen, aus denen durch Anwendung der Regeln desselben Regelkanons sz0 erzeugt werden kann (sz-1 ... sz-n). Da jedes Zeichen szi der Organischen Chemie auf diese Weise interpretiert werden kann, wird verständlich, daß der chemische Interpretationsprozeß in beide Richtungen beliebig weitergeführt werden kann. Zugleich wird deutlich, daß alle interpretierbaren Zeichen szi in einem hochkomplexen Zeichennetzwerk miteinander verknüpft sind. Die chemische Zeicheninterpretation läßt sich also auch als Einordnungsprozeß verstehen, indem das Netz von einer bestimmten Stelle aus neu rekonstruiert wird.

Die Rekonstruktion des Zeichennetzwerks erfolgt durch regelgeleiteten Zeichenoperationen in der "Welt der Zeichen". Operationen mit Zeichen sind im Prinzip nichts Ungewöhnliches; PEIRCE nannte sie "Zeichenprozesse". In der verbalen Sprache verknüpfen wir z.B. nach bestimmten Regeln Zeichen zu linearen Zeichenketten (Buchstaben zu Worten nach morphologischen Regeln, Worte zu Sätzen nach grammatischen Regeln usw.) oder wir ersetzen Zeichen durch andere Zeichen (eine explizite Definition ist z.B. eine Ersetzungsregel). Da die chemischen Strukturzeichnungen keine lineare Struktur besitzen wie die verbalen Sprachzeichen, sind die Möglichkeiten für Zeichenoperationen hier im Prinzip wesentlich reichhaltiger. Und je mehr Zeichenregeln man besitzt, desto vielfältiger und aspektreicher wird die jeweilige Zeichenwelt. Mit jeder Operation, die wir an einem Zeichen nach den Regeln erlaubtermaßen durchführen dürfen, wird dem Zeichen eine Zeicheneigenschaft, eine semiotische Eigenschaft, zugeschrieben. Solche Zeicheneigenschaften, die aufgrund bestimmter festgelegter Regeln die Veränderbarkeit eines Zeichens bestimmen, werde ich im folgenden semiotische Operabilitäten nennen.

Wir haben bereits eine semiotische Operabilität kennengelernt, die alle chemischen Strukturzeichnungen besitzen: jede Strukturzeichnung kann in Atomsymbole als ihre elementaren Zeichen zerlegt werden, die selber elementare Stoffe bezeichnen. Damit kommen wir dem Rätsel der Repräsentation chemischer Informationen auf die Spur. Denn die Zerlegbarkeit eines Stoffes in seine elementaren Bestandteile ist eine chemische Stoffeigenschaft, die durch die semiotische Zerlegbarkeit der Strukturzeichnungen in elementare Zeichen repräsentiert werden kann. Die semiotischen und die chemischen Eigenschaften/Operabilitäten besitzen dieselbe logische Struktur: beide sind Dispositionsrelationen.

Von einer idealen chemischen Zeichensprache ist zu erwarten, daß jede chemische Eigenschaft eines Stoffes eindeutig durch eine semiotische Eigenschaft des zugeordneten Zeichens repräsentiert wird. Dann können wir aus den semiotischen Regeln, die uns sagen, was wir mit den Zeichen machen dürfen, eindeutig erschließen, was wir mit den Stoffen machen können. In der idealen chemischen Zeichensprache muß also das semiotische Regelwerk das Regelwerk der chemischen Experimentierpraxis abbilden. Weil die chemische Interpretation über die formale Analogie zwischen den beiden gesamten Regelwerken läuft, nenne ich sie in Abgrenzung zur symbolischen, ikonischen und indexikalischen Interpretation analogische Interpretation. (In Anknüpfung an die PEIRCE könnte man auch das gesamte semiotische Regelwerk als ikonisches Superzeichen der experimentell fundierten chemischen Stoffordnung auffassen.)

Die semiotischen Regeln der Zeichenumgestaltung, die bis heute mit einer für Nicht-Chemiker unvorstellbaren Raffinesse in fast schon unüberschaubarer Vielfalt entwickelt wurden, heißen in der Chemie "Reaktionsmechanismen". Die charakteristischen Strukturmerkmale, an denen die semiotischen Operationen zur Repräsentation chemischer Eigenschaften ansetzen, werden "funktionelle Gruppen" genannt. Die chemische Interpretation einer Strukturzeichen besteht im ersten Schritt in der selektiven Sichtung aller funktionellen Gruppen einer Struktur. Im zweiten Schritt sucht man den gesamten Apparat gelernter Reaktionsmechanismen danach ab, ob bzw. wo diese funktionellen Gruppen eine Rolle spielen. Im dritten Schritt können dann die Reaktionsmechanismen als Regeln zur Umgestaltung der betreffenden Struktur angewandt werden. Da die Chemie eine Wissenschaft von dynamischen Relationen zwischen Stoffen ist, sind an solchen Zeichenprozessen immer mehrere Strukturzeichnungen beteilgt. Abbildung 3 zeigt den chemischen Zeichenprozeß an einem stark vereinfachten Beispiel eines Reaktionsmechanismus, der für Chemiker kaum noch als solcher erkennbar ist.

<< Abbildung 3: Der chemische Zeichenprozeß am Beispiel der Essigsäureveresterung >>

Die analogische Interpretation ist an die pragmatische Bedingung geknüpft, daß der Interpret die semiotischen Regeln beherrscht. Wer diese Regeln nicht gelernt hat, wird unweigerlich unter Mißachtung des chemischen Informationsgehalts auf die symbolische oder ikonische Interpretation zurückgreifen. Im Unterschied zu den meisten Philosophen und Physikern kann heute ein chemisches Expertensystem auf dem Computer in vielen Fällen eine chemische Interpretation vornehmen, wie sie in Abbildung 2 skizziert ist (MAINZER 1992). Wenn man den Computer gleichzeitig mit einer entsprechenden Ausführungseinheit koppelt, dann können die Zeichenoperationen nach Übersetzung in experimentelle Operationsanweisungen u.U. sogar automatisch ausgeführt werden, wie es heute z.B. in Proteinsyntheseautomaten geschieht. Was Computer indessen bis heute - und wohl auch in Zukunft - nicht beherrschen, das ist die Fähigkeit, die chemische Zeichensprache durch Erweiterung und Verfeinerung der semiotischen Regeln zu perfektionieren. Zur Aufstellung von Regeln müssen nämlich immer Verallgemeinerungen vorgenommen werden, indem man von irrelevanten Aspekten abstrahiert. Diese an Relevanzentscheidungen gebundenen Spracherweiterungen können alleine Chemiker vornehmen. Wenn man hingegen die chemische Sprache ikonisch (miß-)interpretiert, dann wird man die Aufgabe der Sprachpflege gar nicht wahrnehmen und sie u.U. Maschinen überlassen. Auf diese gravierende Konsequenz des Mißverständnisses der chemischen Sprache möchte ich abschließend eingehen.
 

6. Warum eine Sammlung von Ikonen nicht die "intelligente" Zeichensprache der Chemie ersetzen kann

Als BUTLEROW den Begriff der chemischen Struktur einführte, schrieb er (1861: 552): "es scheint sehr natürlich, dass die Chemie, welche mit Körpern nur im Zustande ihrer Verwandlungen zu thun hat, unmächtig ist, solange die physikalischen Untersuchungen nicht zu Hülfe gekommen ist, über diese mechanische Struktur ein Urteil zu geben". Konsequenterweise faßte er die chemische Struktur nicht als statische geometrische Anordnung auf, die er "mechanische Struktur" nannte, sondern als Kraft- oder Affinitätszusammenhang der Atome, welcher alle dynamischen Strukturumwandlungsmöglichkeiten beinhalten sollte.[4] Die Aufgabe der chemischen Strukturaufklärung bestand fortan darin, aus den chemischen Eigenschaften eines jeden neuen Stoffes ein Strukturmodell zu entwerfen, das sich konsistent in das System bekannter Strukturen und Reaktionsmechanismen einfügen ließ.

Was BUTLEROW selber in durchaus optimistischer Weise für die Zukunft anvisierte, ist inzwischen längst Forschungsroutine geworden: Mit einem immensen und ständig wachsenden Arsenal physikalischer Meßmethoden werden heute für jeden Stoff Datenfluten produziert, aus denen sich sehr exakt die räumliche Anordnung von Atomen berechnen läßt. Als in erster Näherung störungsfreie, d.h. stoffumwandlungsfreie, Meßmethoden, erfüllen sie BUTLEROWs Bedingung für mechanische Strukturen. Es scheint, als hätte man nun den alten korpuskularmetaphysischen Traum der piktographischen Abbildung des inneren Wesens der Stoffe erfüllt. Keine Veröffentlichung über einen neuen Stoff, in der nicht mindestens drei verschiedene Methoden über astronomische Datensätze eindeutig die Struktur belegen, die man mit höchster Präzision graphisch darstellt.

BUTLEROWS (ontologische) Unterscheidung zwischen mechanischer und chemischer Struktur entspricht jedoch auf semiotischer Ebene der Unterscheidung zwischen ikonischer und analogischer Zeicheninterpretation. Völlig unabhängig von der metaphysischen Frage, ob die hochpräzisen Ikone realistisch zu deuten sind, ist hier die Frage nach ihrem chemischen Informationsgehalt zu stellen. Im letzten Abschnitt sollte deutlich geworden sein, daß der chemische Informationsgehalt einer Strukturzeichnung der Anzahl ihrer semiotischen Operabilitäten, d.h. der Anzahl der anwendbaren semiotischen Regeln, entspricht. Im Unterschied zur physikalischen Piktogrammerstellung bleibt die chemische Sprachentwicklung prinzipiell erstens darauf angewiesen, die Zeichen in operativen Zusammenhängen mit anderen Zeichen zur Codierung chemischer Stoffumwandlungen zu entwickeln; und zweitens müssen unter chemischen Relevanzgesichtspunkten Stoffähnlichkeiten durch gleiche Strukturelemente codiert werden, weil eine Regel nur praktikabel ist, wenn sie auf mehr als einen Fall anwendbar ist.

Eine Sprache trägt nur dann Informationen, wenn die Möglichkeit dazu von den Zeichenverwendern durch "intelligente" Codierung implementiert wurde; "die Natur" spricht nicht von alleine zu uns. Piktographische Exaktheit liefert hier nicht mal Informationsüberflutung, sondern Informationsleere bzgl. chemischer Information. Das bedeutet freilich nicht, daß die physikalischen Meßmethoden bei der Entwicklung der chemischen Zeichensprache keine wertvollen Dienste leisten könnten: bei der Formulierung von Reaktionsmechanismen sind sie heute unersetzbar. Aber die maschinelle Piktogrammerzeugung kann die intelligente chemische Codierung selbst niemals ersetzen. Jede chemische Information von Piktogrammen bleibt vielmehr aus den dargelegten semiotischen Gründen prinzipiell parasitär gegenüber einer analogischen Interpretation auf der Basis eines unabhängig entwickelten chemischen Codes. Weil der philosophische Ballast des "piktographischen Molekülparadigmas" (LUISI und THOMAS 1990) mindestens ebenso schwer wiegt wie die Faszination an den perfektionierten Meßmethoden, scheint mir die Chemie heute vor der gefährlichen Versuchung zu stehen, ihre intelligent verfaßte Zeichensprache gegen eine Sammlung chemisch informationsleerer Ikone(n) zu tauschen - nach dem Motto: Je exakter die Piktogramme, desto besser die Sprache. Einem solch gravierenden Mißverständnis der Struktur der chemischen Zeichensprachen sollte die semiotische Reflexion entgegentreten.

Anmerkungen

[1] Da die chemiehistorische Literatur zur Nomenklaturreform - nicht zuletzt wegen der thematischen Enge zur sog. "chemischen Revolution" - sehr umfangreich ist, verweise ich lediglich auf CROSLAND 1962 und ANDERSON 1984

[2] ARISTOTELES verglich z.B. die Qualitäten der DEMOKRITschen Atomen (Gestalt, Annordnung und Lage) mit der Gestalt, Annordnung und Position von Buchstaben in der geschriebenen Sprache (Metaphysik, I.4, 985b 15 ff.); PLATONs Ausdruck für naturphilosophisches Elemente, stoicheia, bezeichnete u.a. auch Phoneme in der gesprochenen und Buchstaben der geschriebenen Sprache; und der von LUKREZ eingeführte lateinische Ausdruck elementum, geht vermutlich auf die Buchstabenreihe L-M-N des lateinischen Alphabeths, als sollte damit so etwas wie das ABC der Materie ausgedrückt werden (vgl. REX 1985: 191).

[3] Auch wenn hier noch von Intuition die Rede ist - wir werden später sehen, daß solche Interpretationen im Prinzip auch ein Automat durchführen kann -, so ist es doch die präziseste Formulierung eines Chemikers, die ich finden konnte. Der Chemiker GUY OURISSON (1986: 46) z.B. beschreibt die chemische Interpretation einer Strukturzeichnung (sein Beispiel ist Methylcyclohexanol) geradezu mystifizierend: "nous savon qu'elle va presénter tout un potentiel de réactions, qu'on pourra l'oxyder, qu'on pourra la déshydrater. Et tout cela nous le savon, nous ne l'analysons pas, mais simplement une vue-éclair de la formule le rend disponible."

[4] Ähnlich auch der frühe KEKULÉ: "Rationale Formeln sind nur Formeln zur Repräsentation der Reaktionen und keine Konstitutionsformeln." (zitiert nach PARTINGTON 1961 ff., Bd. IV, S. 537).
 

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