Abstract: ("Consciousness of Time, Ecology, and Ethics")
The paper investigates the impact of global environmental issues on our consciousness of time and vice versa. In Part I, I first analyze in detail how various kinds of temporal structure, such as linear progress, circularity etc., are built and what makes us select one of them as being universal. Part II discusses types of confusion and distortion of our consciousness of time due to global environmental issues. Since our consciousness of time is fundamental to our way of perceiving and dealing with the environment, the topic has also an ethical dimension. In Part III, following Hans Jonas’ approach of ethics, I ask what kind of a consciousness of time is adequate for responsibly treating our environment.
Einleitung
I. Strukturen des Zeitbewußtseins 1. Analyse: Formen von ZeitstrukturenII. Der Einfluß ökologischer Probleme auf unser Zeitbewußtsein 1. Besonderheiten ökologischer ProblemeIII. Zeitbewußtsein und Verantwortungsethik |
Der vorliegende Beitrag behandelt keines dieser Themen. Statt dessen
möchte ich aus philosophischer Perspektive die Beziehungen zwischen
ökologischen Problemen und Zeitbewußtsein ausloten. Unter
Zeitbewußtsein verstehe ich insbesondere, welche zeitlichen Strukturen
uns von Personenzeit, Kulturzeit und Naturzeit bewußt sind; z.B.
Linearität, Wachstum, Verfall, Kreislauf, Endlichkeit oder Unendlichkeit.
Ich werde untersuchen, wie wir diese zeitlichen Strukturen gewinnen und
welche Umstände uns zur Universalisierung einer Zeitstruktur veranlassen
(Teil I). Unter den ökologischen Problemen werde ich vor allem irreversible
anthropogene Umweltveränderungen globaler Art behandeln, die kein
räumliches Entrinnen zulassen. Ich möchte zunächst zeigen,
daß die Wahrnehmung dieser Umweltveränderungen unser Zeitbewußtsein
verändert. Dies kann nicht nur zu Irritationen, sondern auch zu Verzerrungen
führen, die sich in Zukunftsverweigerung oder verschiedenen Negativ-
oder Positivutopien äußern, z.B. Visionen von globalen Katastrophen,
Naturkreisläufen oder unbegrenztem Wachstum (Teil II). Weil unser
Zeitbewußtsein grundlegend für unsere Wahrnehmungen, Bewertungen
und Handlungen ist, hat dies auch umgekehrt Konsequenzen für unsere
Umweltwahrnehmungen und -handlungen. Das Verständnis dieser Wechselwirkung
soll zum einen Ansatzpunkte bieten, um sich vor Irritationen und Verzerrungen
des Zeitbewußtseins zu bewahren. Zum anderen möchte ich unter
Rückgriff auf Hans Jonas’ Verantwortungsethik untersuchen, welches
Zeitbewußtsein für einen verantwortlichen Umgang mit unserer
Umwelt angemessen ist (Teil III).
Der bewußtseinsphilosophische Zugang erlaubt es zunächst einmal, daß wir von der besonderen Art der Bewußtseinsgehalte abstrahieren können. Für die zeitliche Struktur ist es unerheblich, ob die Gehalte der inneren oder der äußeren Wahrnehmung entstammen, ob sie beispielsweise auf unsere Empfindungen, unsere Person, die Gesellschaft oder Natur bezogen sind. Im Unterschied zum Raum ist die Zeit ein universelle Strukturierungsleistung,[4] die alle unsere Bewußtseinsgehalte erstens in eine integrative Ordnung der Gleichzeitigkeit und des Nacheinander bringt und zweitens immer wieder eine neue Einteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft leistet.
Sobald wir unsere Vergangenheit, d.h. unsere vergegenwärtigten Erinnerungen, in dieser Weise geordnet haben, können wir nach weiteren Ordnungsstrukturen Ausschau halten. Regelmäßig wiederkehrende Ähnlichkeiten legen ein periodisches Ordnungsprinzip nahe. Eine stetige Zunahme oder Abnahme bestimmter Empfindungsqualitäten oder -intensitäten spricht für eine positive oder negative Entwicklungsordnung. Indem wir eines dieser an unseren Erinnerungen aufgefundenen Ordnungsprinzipien auf unsere Gegenwart und Zukunft verallgemeinern, übernehmen wir eine bestimmte Zeitstruktur, hier: eine zyklische bzw. linear-progressive oder linear-degressive Zeitstruktur. Finden wir hingegen keine Regelmäßigkeiten in unseren Erinnerungen, dann erscheint die Zeit, neben der vorausgesetzten Linearität, strukturlos. In jedem Falle prägt eine solcherart verallgemeinerte Zeitstruktur bzw. -strukturlosigkeit dann auch unsere Erwartungen und unsere gegenwärtige Aufmerksamkeit.
Vergangenheit (Erinnerungen) und Zukunft (Erwartungen) verhalten sich bewußtseinsphilosophisch nicht ganz symmetrisch zueinander. In der Regel prägen die Erinnerungen sehr viel mehr unsere Erwartungen als umgekehrt. Die Fähigkeit, von Vergangenem auf Zukünftiges zu schließen, macht uns ja zu lernfähigen und vorausschauenden Wesen; und genau in diesem Sinne verallgemeinern wir Strukturen der Vergangenheit zu allgemeinen Zeitstrukturen. Gleichwohl bleibt die Zukunft im Vergleich zu unserer Vergangenheit relativ unbestimmt. Diese Unbestimmtheit der Zukunft führt dazu, daß unsere Erwartungen anfällig sind für Emotionen wie Hoffnung auf Verbesserung oder Angst vor Verschlechterung, Sehnsucht nach einem ursprünglichen Zustand oder Verunsicherungs- und Desorientierungsgefühl. Da solche emotional gestimmten Erwartungen der Zukunft zeitliche Strukturen (bzw. Strukturlosigkeit) aufprägen, können diese auch durch Verallgemeinerung ‘rückwirkend’ unsere Vergangenheit und Gegenwart prägen, indem sie unsere Erinnerungen verzerren und unsere gegenwärtige Aufmerksamkeit auf entsprechende Aspekte fokussieren. Je nach den emotionalen Stimmungen können wir dann folgenden Zeitstrukturen unterscheiden: linear-progressiv oder -degressiv (teleologisch), zyklisch, strukturlos.
Die relative Unbestimmtheit der Zukunft gibt aber auch Raum für intellektuelle Spekulationen. Während unsere Erinnerungen nur begrenzt zurückreichen, sind unseren Erwartungen keine prinzipiellen zeitlichen Grenzen gesetzt. Im Prinzip können wir Zeit als in der Zukunft unbegrenzt vorstellen. Damit ergeben sich nun sechs bzw. acht Haupttypen von Zeitstrukturen, wenn wir die Unterscheidung zwischen begrenzter und unbegrenzter Zukunft anwenden auf die teleologische (linear-progressiv bzw. -degressiv), zyklische und strukturlose Zeit.
Unter dem Gesichtspunkt unbegrenzter Zukunft lassen sich prinzipiell auch kombinatorische Zeitstrukturen entwickeln. Die lineare zielorientierte Struktur kann eine Zyklusphase darstellen, der sich beliebig oft wiederholt; oder die verschiedenen Strukturen bilden aufeinander folgende Phasen eines größeren Zyklus (z.B. eine progressive, eine strukturlose und eine degressive Phase) etc. Auf der Ebene der intellektuellen Spekulation verliert das Zeitbewußtsein seine Anbindung an unmittelbare Erinnerung und Erwartung. Eine erinnerungsbasierte linear-progressive Struktur etwa läßt sich stets auch als Täuschung interpretieren, wenn sie z.B. als momentane Phase eines längeren Zyklus aufgefaßt wird. Aber damit verlassen wir den Bereich der bewußtseinsorientierten Zeitstrukturen.
Statt dessen möchte ich nun zu der Frage übergehen übergehen,
wie wir aus der Analyse unserer Bewußtseinsgehalte eine Pluralität
von Zeitstrukturen gewinnen können.
Ich möchte nun an einigen Beispielen illustrieren, daß wir gleichzeitig verschiedene Formen von Zeitstrukturen aktualisieren und zwar jeweils für die Bereiche der Personen-, Kultur- und Naturzeit. Für jeden der Bereiche greife ich drei Zeitstrukturformen heraus: die linear-begrenzte, die linear-unbegrenzte und die zyklische Zeit.
Was unsere individuelle Personenzeit betrifft, so sind wir uns ziemlich sicher, daß wir einem stetigen Alterungsprozeß unterliegen und daß unsere Lebenszeit definitiv begrenzt ist. Wir können sie sogar, sobald wir das Säuglingsalter überschritten haben, mit relativ hoher statistischer Wahrscheinlichkeit auf etwa 80 Jahre abschätzen. Wer es genauer haben will, kann einschlägigen demographischen Statistiken die durchschnittliche Lebenserwartung für jedes Alter und jedes Land entnehmen. Und selbst im Falle einer tödlichen Krankheit kann uns der Arzt in der Regel eine statistisch begründete Schätzung über die verbleibende Lebenszeit geben kann. Ob uns die Zahlen im Detail bekannt sind oder nicht, das Modell der linear-begrenzten Lebenszeit prägt durchgängig unsere Lebensvorstellungen und -entwürfe.
Das Modell der zyklisch strukturierten Lebenszeit ist uns präsent, wenn wir unser Leben in Rhythmen einteilen oder durch Routinen bestimmen lassen. Der Sinn von Routinen liegt ja gerade darin, durch möglichst gleichförmige Wiederholung von Handlungsabläufen eine Komplexitätsreduktion und damit eine Entlastung bei der Alltagsbewältigung zu finden. Ein Leben ohne Routinen ist kaum vorstellbar. Das zyklische Modell kommt aber auch in außeralltäglichen Situationen zum Tragen, insbesondere wenn wir uns nach einer besonders tiefen Lebenskrise wie neugeboren fühlen und z.B. eine ganz neue Lebensphase beginnen, die von der vorherigen unbelastet sein soll. Indirekt leben wir die zyklische Vorstellung aber auch im Hinblick auf die Generationsfolge aus, also in der projektiven Fortsetzung unseres eigenen Lebens in unseren Kindern.
Das Modell einer linearen unbegrenzten Zeit ist besonders deutlich in fast allen Erlösungsreligionen verankert – vom Buddhismus bis zum Christentum. Weil es schwer einzusehen ist, daß mit dem eigenen physischen Tod auch die ganze Existenz aufhört, entwerfen wir Vorstellungen von einem Weiterleben nach dem Tode. Und dieses Weiterleben stellen wir uns in der Regel als zeitlich unbegrenzt vor.
Die drei Zeitstrukturen lassen sich auch in vielen Kulturen wiederfinden, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung. Es wird oft übersehen, daß die einfachste Form der Zeitrechnung bereits eine Kombination von zyklischer und linear-unbegrenzter Struktur darstellt. Denn gezählt werden kann nur etwas, das als Gleiches oder zumindest Ähnliches immer wiederkehrt, also z.B. Tage, Monate, Jahre, Jahrhunderte usw., oder bestimmte Feste oder Rituale. Andererseits legt der Gebrauch von Zahlen nahe, daß wir auch immer weiter zählen können: Wenn wir hundert Jahre gezählt haben, dann können wir auch das hundert und erste Jahr, das hundert und zweite Jahr usw. zählen. Dem Zählen sind also keine prinzipiellen Grenzen gesetzt.
In der spezifischen Form des Umgangs mit der kulturellen Vergangenheit kommen das zyklische und das lineare Modell in diversen Kombinationen zum Tragen. Die verschiedenen dem Mythos entspringenden regelmäßig wiederholten Rituale, Feste oder Jubiläen betonen die zyklische Struktur. Demgegenüber gewichten Formen der Akkumulierung von Kulturgütern das lineare Modell. Hierzu gehören lebenspraktische Weisheiten oder Wertsysteme zur individuellen und kollektiven Lebensführung, wissenschaftliches Wissen und Kunstwerke, die in Archiven, Bibliotheken oder Museen gelagert sind, aber auch technische Fertigkeiten, Strategien, Instrumente, Werkstoffe usw. Die gesammelten Dinge mögen zwar irgendwann einmal als untauglich oder überholt gelten, aber der ursprünglichen Intention nach werden sie zur Verwendung in einer offenen Zukunft gesammelt und aufbewahrt.
Für die linear-begrenzte Zeitstruktur gibt es im jüdisch-christlichen und islamischen Kulturbereich die zusätzliche Vorstellung des genau datierten Weltendes, des Weltuntergangs, der Apokaplypse oder des "Jüngsten Tages nach dem tausendjährigen Reich". In der griechischen Antike und übrigens noch deutlicher bei den Mayas wird die Vorstellung eines Weltendes auf raffinierte Weise aus der zyklischen Vorstellung entwickelt. Man nimmt einfach einen sehr großen globalen Kreislauf von Weltentstehung und Weltuntergang an. Aus der Perspektive einer Gesellschaft ist dann das Ende eines Zyklus der totale Weltuntergang; nur aus der Gottesperspektive geht der Kreislauf mit einer neuen Weltgeburt weiter.
Gibt uns die Natur klare Anhaltspunkte über die "richtige"
Zeitstruktur? Darüber müßten uns dann die Naturwissenschaften
Aufschluß geben. Tatsächlich können wir aber auch an natürlichen
Systemen alle Zeitstrukturen wiederfinden. Ob man biologische Individuen,
einzelne Arten, ganze ökologische Systeme oder auch Elementarteilchen
nimmt, stets findet man eine begrenzte Lebensdauer, wenn man den Beobachtungszeitraum
nur groß genug wählt. Zyklische Prozesse finden wir auf der
Ebene der Generationsfolge, der jahreszeitlichen Schwankungen, der Himmelsbewegungen,
der Atomschwingungen usw. Falls man einen unbegrenzten Wachstumsprozeß
sucht, kann man sich auf die Entropiezunahme nach dem zweiten Hauptsatz
der Thermodynamik oder auf die Expansion des Universums nach der Urknalltheorie
(zumindest nach einer Variante) berufen. Nimmt man nicht astronomische,
sondern geologische Zeitskalen, dann haben wir als Beispiele die über
Milliarden Jahre erfolgte Abnahme von Kohlendioxid und Zunahme von Ozon
in unserer Erdatmosphäre. Beides sind kontinuierliche Entwicklungen,
die wir heute gewaltsam und zu unserem Schaden umkehren. Schließlich
könnte man auch die evolutionäre Ausdifferenzierung biologischer
Arten anführen, gegen die wir heute ebenfalls zu Felde ziehen. Der
Naturbereich bietet sich außerdem auch an, strukturlose Prozesse
zu benennen. Man muß dazu nicht mal auf die moderne Chaostheorie
zurückgreifen. Ein klassisches Ensemble, z.B. ein ideales Billiardkugelsystem,
verhält sich bereits in der Hinsicht strukturlos, daß es weder
Periodizitäten noch progressive oder degressive Tendenzen aufweist.
Die Einsicht, daß wir auch in der Natur verschiedenste Zeitstrukturen
finden können, ist natürlich problematisch für diejenigen,
die heute in der Natur das Vorbild für universelle Kreislaufprozesse
sehen wollen – darauf werde ich später noch eingehen.
Wie läßt sich dann die Neigung erklären, daß nicht nur Individuen, sondern auch ganze Kulturen oder Epochen bestimmte Zeitstrukturen präferieren, so daß wir im Rückblick Kulturen oder Epochen nach ihren spezifischen Zeitstrukturen charakterisieren können?[5] Wieso schreiben wir beispielsweise archaischen Kulturen eher ein zyklische Zeit zu, während wir die europäischen Neuzeit durch die Herausbildung einer linear-progressiven Zeitstruktur charakterisieren? Da unsere Erinnerungen und aktuellen Wahrnehmungen wenig Anlaß für solche eindeutigen Präferenzen geben, muß die Antwort wohl in den Zukunftserwartungen gesucht werden.
Wir haben gesehen, daß Unbestimmtheit der Zukunft unsere Erwartungen anfällig macht für Emotionen. Emotionen können entweder gegenstandsbezogen und damit selektiv sein oder Grundstimmungen ohne spezifischen Gegenstandsbezug und damit pauschal. Zu den letzteren gehören insbesondere Hoffnung und Angst, die Sehnsucht nach Geborgenheit und das Verunsicherungs- oder Desorientierungsgefühl. Jedes dieser Grundstimmungen formt die Zukunftserwartungen auf eigene zeitliche Weise, nämlich als linear-progressiv, linear-degressiv, zyklisch und als unstrukturiert. Wir haben auch gesehen, daß die Zeitstruktur der Erwartungen Rückwirkungen haben kann auf Gegenwart und Vergangenheit, in dem sie bestimmte Erinnerungen und aktuelle Wahrnehmungen selektiv hervorhebt und andere unterdrückt. Demnach wäre zu vermuten, daß alle ausgeprägten Präferenzen für bestimmte Zeitstrukturen in erster Linie begründet sind in bestimmten grundgestimmten Zukunftshaltungen. Je mehr wir auf die Zukunft orientiert sind und je stärker wir dabei von einer Grundstimmung getragen sind, desto mehr tendieren wir zu einer universalisierten Zeitstruktur für alle Bereiche.[6]
Wenn die These richtig ist, daß bestimmte zukunftsbezogene Grundstimmungen Präferenzen für bestimmte Zeitstrukturen befördern, dann läßt sich auch umgekehrt fragen, ob universalisierte Zeitstrukturen bestimmte Grundstimmungen befördern. Dafür gibt es zumindest eine Reihe von Hinweisen. Bereits in der klassischen griechischen Antike scheint das zyklische Modell unter Betonung der harmonischen Ordnung des Himmels als Mittel gegen (politisch-moralische) Gefühle der Orientierungslosigkeit und Verunsicherung eingesetzt worden zu sein. Der Mythos insgesamt scheint neben anderem die Funktion der Stabilisierung und der Vertrauensbildung in den Lauf der Welt zu erfüllen. Endzeitstimmungen – also universalisierte Formen der begrenzten Zeit – haben immer wieder ekstatische Stimmungen hervorgerufen, die allerdings in der christlichen Tradition mit bestimmten Erlösungshoffnungen verbunden waren. Unbestritten ist wohl außerdem, daß universalisierte Formen der strukturlosen, der linear-progressiven und der linear-degressiven Zeit Grundstimmungen der Orientierungslosikeit, des pauschalen Optimismus bzw. Pessimismus befördern.
Es ist anzunehmen, daß es eine gewisse Resonanz gibt zwischen
Grundstimmungen und Zeitstrukturen. Das bedeutet zum einen, daß unser
Zeitbewußtsein sensibel ist für alle Veränderungen, die
auf unsere zukunftsorientierten Grundstimmungen Einfluß nehmen können.
Wir werden gleich sehen, daß ökologische Probleme von genau
dieser Art sind. Zum anderen bedeutet dies, daß eine einmal universalisierte
Zeitstruktur Rückwirkungen auf unsere Grundstimmung und damit auch
auf unsere Lebenszufriedenheit nehmen kann.
Die globalen Umweltproblemen besitzen nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Dimension: Mit den Treibhausgasemissionen verschaffen wir uns eine recht ungewisse klimatische Zukunft. Die mittlere Zunahme der UV-B Strahlenbelastung läßt sich hingegen vergleichsweise gut vorausberechnen, denn wir kennen ungefähr die Verweildauer jener Stoffe in der Stratosphäre, die sich dort ansammeln und katalytischen Ozonabbau betreiben, ohne dabei selbst verbraucht zu werden. Selbst wenn die Emissionen von FCKWs abrupt eingestellt würden, dann wird der Konsum der vergangenen 40 Jahre über die nächsten 50-100 Jahre noch eine beschleunigte Zunahme der gefährlichen UV-B Strahlung einbringen. Noch präzisere Zeitverlaufskurven lassen sich für den Abbau radioaktiven Abfalls mit Halbwertszeiten von mehreren tausend Jahren angeben. In anderen Fällen lassen sich verschiedene Szenarien durchführen, die uns – jeweils bestimmte Bedingungen vorausgesetzt – den zeitlichen Endpunkt einer vollständigen Aufzehrung bzw. Vernichtung aufzeigen; z.B. beim Verbrauch endlicher Rohstoffvorräte, beim Landschaftsverbrauch, bei der Abholzung tropischer Regenwälder, beim biologische Artensterben.
Man könnte die zeitliche Dimension noch weiter präzisieren,
z.B. durch die Betrachtung der zeitlichen Dynamik von ökologischen
Systemen, ihrer Flexibilität, Störanfälligkeit und Wandelbarkeit
usw., um daraus angepaßte "Zeitmaße" für unser Handeln
zu gewinnen.[7] Ich möchte hier darauf nicht weiter
eingehen, sondern im folgenden untersuchen, wie die globalen ökologischen
Problem unser Zeitbewußtsein verändern können.
Wir leben alle mit einem stillschweigend gehegten Vertrauen auf eine statistisch verbürgte Lebenserwartung von ca. 80 Jahren. Solche Statistiken liefern natürlich keine Sicherheit für die individuelle Lebenzeit. Aber wann immer wir mittel- bis langfristigen Lebensentwürfe vornehmen, haben wir keine andere Wahl als uns auf solche Erfahrungsgrundlage und damit auf eine linear-begrenzte Zeitstruktur zu beziehen. Statistisch durchlaufen wir einen kontinuierlichen Alterungsprozeß, der mit ca. 80 Jahren endet. Mit der Angst vor neuen unausweichbaren ökologischen Problemen – wie insgesamt mit der Angst vor allen neuen Gefahren wie Kriege, Seuchen usw. – wird das Vertrauen in die statistisch verbürgte Lebenserwartung getrübt. Denn die Neuartigkeit von Gefahren macht alle auf der Vergangenheit beruhenden Erfahrungen bzw. Statistiken zunichte. Infolgedessen verunsichern solche Umweltprobleme, wenn man sie auf sein eigenes Leben bezieht, insbesondere die mittel- und langfristigen Lebensentwürfe. Die Zukunft erscheint ungewisser.
Irreversible Umweltveränderungen entziehen darüber hinaus inbesondere dem zyklischen Zeitbewußtsein die Grundlage, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen erfordern zyklische Prozesse ja ganz allgemein relativ konstante Randbedingungen. Werden diese stetig oder plötzlich verändert, dann wird die zyklische Struktur gestört. Zum anderen weisen die meisten Umweltveränderungen eine linear-degressive Zeitstruktur auf. In dem Maße, in dem die zunehmenden Umweltveränderungen wahrgenommen und als Bedrohung empfunden werden, wächst auch die Tendenz, die linear-degressive Zeitstruktur zu universalisieren. Denn eine pessimistische Grundstimmung fokussiert die aktuelle Aufmerksamkeit auf Indizien der Verschlechterung und blendet damit Aspekte der Wiederholung und Regeneration partiell aus.
Das linear-zukunftsoffene Zeitbewußtsein besitzt eine kulturelle Verankerung in der Sammlung und Tradierung von Wert- und Wissensbeständen für mögliche zukünftige Anwendung. Nun sind es aber gerade tradierte Wert- und Wissensbestände – insbesondere zum Umgang mit Natur – die uns heute vielfach als überholt oder sogar als verantwortlich für unsere ökologischen Probleme erscheinen. Der Bruch mit der linearen Tradierungskette wird uns daher in doppelter Hinsicht nahegelegt: Erstens erscheint uns die vergangene Tradition als fehlgeleitet; das machen wir an den problematischen ökologischen Folgen fest. Und zweitens haben diese Folgen auch sehr veränderte Randbedingungen geschaffen, unter denen die tradierten Wert- und Wissensgehalte nun auch fragwürdig erscheinen. Wir werden später sehen, daß das linear-zukunftsoffene Zeitbewußtsein eine Grundlage für moralische Verantwortung darstellt. Irritationen dieses Zeitbewußtseins können zu Spannungen und Überforderungen der Zukunftsverantwortung führen.
Zusammenfassend kann man sagen, daß globale irreversible ökologische
Probleme sehr vielschichtig in unser Zeitbewußtsein eingreifen. Sie
bringen insgesamt eine einseitige Verlagerung auf die Zukunft sowie Irritationen
der mittel- bis langfristigen Lebensentwürfe, des zyklischen und des
linear-zukunftsoffenen Zeitbewußtseins.
Die Art und Weise, in der das Katastrophenmodell eingesetzt wird, zeigt, daß es sich in erster Linie um ein rhetorisches Mittel handelt, um Änderungen des Umwelthandelns zu mobilisieren. Wer beispielsweise von einer "globalen Klimakatastrophe" spricht, suggeriert, daß wir eine Erde ohne Klima statt schleichender und lokal völlig unvorhersehbarer Klimaveränderungen zu befürchten haben. Daran wird deutlich, daß der (rhetorische) Weg über das Zeitbewußtsein als besonders vielversprechend erscheint, um selbst fest verankerte Lebensformen zu ändern. Geht man davon aus, daß unser Zeitbewußtsein eine zentrale Grundlage für unsere Wahrnehmungen, Bewertungen und Handlungen darstellt, dann sollte dieser Weg auch sehr effektiv sein.
Die permanente Kultivierung des Katastrophenmodells ist jedoch sehr
bedenklich. Denn sie führt entweder zur Abflachung oder zu pathologischen
Ängsten und stets zu gravierenden Fehleinschätzungen. Die Umweltpsychologie
hat nachgewiesen, daß permanente Kultivierung von Umweltängsten
entweder zur emotionalen Abwehr und damit zu Problemverdrängungen
führt [8] oder, was insbesondere bei Kindern nachweisbar
ist, paranoide Störungen provoziert.[9] Ganz allgemein
läßt sich auch feststellen, daß ein einseitig verzerrtes
Zeitbewußtsein zu verzerrter Problemwahrnehmung und -einschätzung
und damit auch zu fehlgeleitetem Handeln führt. Viele ökologischen
Probleme sind durch schleichende, oft über Generationen andauernde
Veränderungen gekennzeichnet. Das Tückische daran ist, daß
wir uns an die veränderten Lebensbedingungen gewöhnen, daß
spätere Generationen sie vielleicht sogar als selbstverständliche
Umwelt empfinden. Oft sind es gerade die schleichenden, weniger spektakulären
Veränderungen, die auf lange Sicht zu irreversiblen und viel einschneidenderen
Schäden unserer Lebensbedingungen führen, ohne daß wir
sie in die Katastrophenmetapher einhüllen können.
Hinter der Universalisierung der zyklischen Zeitstruktur steckt ein durch die Irritationen gesteigertes Bedürfnis nach Regeneration. Der Natur im Modus des Kreislauf wird eine ihr innewohnende Kraft zur Erneuerung zugesprochen. Historisch gab es immer wieder Phasen, in denen das zyklische Modell einseitig favorisiert wurde. Man denke nur an den altägyptischen, uns sprichwörtlich gewordenen Phönix, der immer wieder neu aus der Asche entsteigt, an die als göttlich empfundene Harmonie der kreisförmigen Himmelsbewegung, an die romantischen Bewunderungen natürlicher Regenerationsprozesse usw.
Das zyklische Zeitbewußtsein hat zwar seine Berechtigung, es wird
aber ebenfalls durch Universalisierung naiv und problemverdrängend
oder -verzerrend. Denn entweder wird man dazu verleitet, auf die "natürliche
Regenerationskraft" zu hoffen und sich damit schicksalsergeben der Verantwortung
zu entziehen. Oder man macht sich das zyklische Modell zum bedingungslosen
Maßstab des Handelns, was zu absurden Konsequenzen führen kann.
Am Beispiel des sogenannten Recyclings läßt sich zeigen,
daß wir dabei stets eine selektive Perspektive für Kreislaufstrukturen
anlegen, die alle nicht-zyklischen Prozesse einfach ausblendet. Zwar können
wir technisch die meisten unserer Konsumgüter nach Gebrauch wieder
in eine grund- oder rohstoffliche Form zurückführen, aus der
dieselben Produkte wieder herstellbar sind. Ein solcher Prozeß ist
jedoch nur unter der werkstofflichen Perspektive kreislaufartig. Denn unter
energetischen Gesichtspunkten haben wir dabei mit jedem Schritt irreversible
Prozesse, die jeweils Energie und damit Energierohstoffe verbrauchen. Was
aus der werkstofflichen Perspektive als perfekter Kreislauf erscheint,
das ist aus energetischer Perspektive ein kontinuierlicher Verbrauch, ein
linear-degressiver Prozeß. Die Wahrnehmung eines perfekten Kreislaufes
ist daher stets das Ergebnis selektiver Ausblendung, d.h. eine Illusion.
Eine zyklische Wirtschaftsstruktur im Sinne möglichst geschlossener
Stoffkreisläufe ist nicht deswegen ökologisch vorteilhaft, weil
sie eine Verwirklichung des Kreislaufmodells ist, sondern weil sie in vielen
Fällen der langsamste linear-degressive Prozeß ist. Wer
hingegen das Kreislaufmodell zur bedingungslosen Maxime ökologischen
Handelns macht, handelt nicht nur wegen der Beliebigkeit der Perspektive
willkürlich, sondern manchmal auch zum Schaden der Umwelt.
Die Wachstumsillusion besitzt noch eine andere, nicht-wirtschaftliche
Variante, die sich in einer zwar geschwächten, aber immer noch lebendigen
Wissenschafts- und Technikgläubigkeit äußert. Man glaubt,
daß sich für alle unsere Probleme eine naturwissenschaftlich-technische
Lösung finden läßt. Zwar ist inzwischen zur allgemeinen
Einsicht gelangt, daß alle solche Lösungen die Gefahr unbeabsichtigter
und unerwünschter Nebenfolgen mit sich bringen. Doch man glaubt eben,
daß auch für die neuen Probleme bald neue Lösungen zur
Verfügung stehen, und so weiter. Die technokratische Wachstumsillusion
besagt, daß unsere wissenschaftlich-technische Problemlösungskapazität
schneller wächst als unsere Probleme, so daß alle Probleme im
Griff gehalten werden können. Wie könnte man einen solchen Glauben
rechtfertigen? Soweit ich sehe, gibt es keine rationalen Argumente für
diese Zukunftsvision der Machbarkeit. Der Glaube scheint vielmehr nichts
anderes als Ausdruck einer universalisierten linear-progressiven Zeitstruktur
zu sein.
Zunächst ist klar, daß die verschiedenen Formen der Verzerrung (Abs. II.3) keine angemessene Grundlage darstellen, weil sie zu falschen Problemwahrnehmungen verleiten. Eine möglichst realistische Einschätzung ökologischer Probleme, unserer natürlichen Umwelt und unserer eigenen Problemlösungskapazitäten setze ich als Grundvoraussetzung für verantwortliches Handeln voraus. Mit dem Katastrophenmodell, dem Kreislaufmodell und der Macher-Illusion wird zwar jeweils für sich ein Problembewußtsein angeschoben und Handlungsmotivationen freigesetzt, der Preis ist jedoch jeweils eine verzerrte Problemwahrnehmung, die lediglich einen blinden Aktionismus freizusetzen vermag. Und erst recht gilt für die verschiedenen Formen, dem wachsenden Zukunftsdruck kompensatorisch durch einseitige Vergangenheits- oder Gegenwartsfixierung zu begegnen, daß sie die Probleme ausblenden statt möglichst realistisch einzuschätzen und daher keine Basis für verantwortliches Handeln darstellen können.
Die Frage nach dem angemessenen Zeitbewußtsein für eine Umweltethik führt damit zu der Frage, wie wir die Verzerrungen als Resultat der Irritationen durch ökologischen Probleme vermeiden können, ohne dabei die Probleme selber zu verdrängen. Wir haben gesehen, daß ein Grundzug aller Irritationen eine verstärkte Zukunftsorientierung darstellt. Die Sorge um die Zukunft ist aber zugleich eine wesentliche moralische Voraussetzung für verantwortliches Handeln, denn nur wem die Folgen seiner Handlung nicht gleichgültig sind, der ist empfänglich für moralische Verantwortlichkeit. Damit stoßen wir auf ein Phänomen, das ich "Zukunftsfalle" nennen möchte: Einerseits ist die Sorge um die Zukunft eine notwendige moralische Bedingung für Verantwortlichkeit, andererseits führt sie aber auch zu Verzerrungen der Problemwahrnehmung und ist dann eine kognitiven Behinderung verantwortlichen Handelns. Das Resultat ist blindes moralisches Engagement, daß zwar gesinnungsethisch lobenswert erscheinen mag, aber verantwortungsethisch äußerst bedenklich ist.
Gibt es einen Ausweg aus der Zukunftsfalle? Wenn meine Überlegungen in Abschnitt I.3 richtig sind, dann sind alle Verzerrungen das Ergebnis von Universalisierungen einer Zeitstruktur, die wiederum durch Grundstimmungen befördert sind. Infolge dessen läßt sich die Zukunftsfalle vermeiden, wenn man die Universalisierung einer Zeitstruktur vermeidet, indem man sich nicht von Grundstimmungen ergreifen läßt und die Pluralität der Zeitstrukturen und -modi bewußt hält.
Das Gefühl der Sorge um die Zukunft ist zwar eine notwendige moralische Bedingung für Verantwortlichkeit, nicht aber die Grundstimmung der Sorge oder Angst. Grundstimmungen sind pauschalisierte, auf Dauer gestellte Gefühle ohne konkreten Gegenstands- oder Handlungsbezug. Für moralische Verantwortlichkeit reicht es dagegen aus, wenn wir uns in den konkreten und relevanten Fällen Sorgen machen, nämlich in solchen, bei denen unsere Handlungen überhaupt voraussehbare problematische Folgen in der Zukunft haben können. Wenn man Problembewußtsein als weitere Bedingung für Verantwortlichkeit ansetzt, dann läßt sich sogar behaupten, daß Grundstimmungen die Möglichkeit von Verantwortlichkeit ausschließen. Denn Grundstimmungen wie pauschalisierte Sorge oder Angst lähmen ja gerade das Bewußtsein, zwischen problemrelevanten und -irrelevanten Fällen unterscheiden zu können. Wir können daher schließen, daß ein für die Umweltethik angemessenes Zeitbewußtsein frei von Grundstimmungen und den damit einhergehenden Universalisierungen bestimmter Zeitstrukturen ist.
Wie kann man das angesichts der Irritationen durch globale ökologische Probleme erreichen? Zum einen scheint es wichtig, daß man dem Problemdruck nicht in der Weise erliegt, daß die Zukunft (Erwartung) zum alles dominierenden Zeitmodus wird. Vergangenheit (Erinnerung) und Gegenwart (aktuelle Wahrnehmung) müssen ihre eigenständige Bedeutung behalten und sollten auch unabhängig von einem zukunftsorientierten Problembewußtsein vergegenwärtigt und erlebt werden können. Zum anderen kann man sich vor einem einseitigen Zeitbewußtsein dadurch bewahren, daß man sich die Vielfalt möglicher Zeitstrukturen stets vergegenwärtigt. In Abschnitt I.2 wurde gezeigt, daß wir für die Hauptbereiche der eigenen Lebenszeit, der kulturellen Zeit und der Naturzeit jeweils ganz verschiedene Zeitstrukturen aktualisieren können. Es ist lediglich eine Frage der Aufmerksamkeit und der Bereitschaft, die jeweiligen Perspektiven einzunehmen, ob man die Pluralität der Zeitstrukturen wahrnimmt oder nicht. In jedem Fall kann man die Vergegenwärtigung sowohl der Zeitmodi als auch der Pluralität von Zeitstrukturen lernen und üben, um sich vor Verzerrungen des Zeitbewußtseins und vor pauschalen Grundstimmungen zu bewahren.
Gibt es darüber hinaus besondere Kriterien für ein der Umweltethik angemessenes Zeitbewußtsein? Wenn man Umweltethik mit Hans Jonas als Ethik der Verantwortung für zukünftige Generationen betrachtet, dann ist insbesondere davor zu warnen, eine linear-progressive Zeitstruktur für die Zukunft anzusetzen.[10] Zwar betrachten Umweltbewegungen heute meist eine zukunftsvergessene und damit verantwortungslose Gegenwartsfixierung als Ursache ökologischer Probleme. Kulturhistorisch scheint aber eher umgekehrt der seit dem 18. Jahrhundert verstärkt auftretende zukunftsorientierte Fortschritts- und Optimierungsglaube – als säkularisierte Form christlicher Heilsgeschichte – verantwortlich zu sein.[11] Nicht Zukunftsvergessenheit, sondern eine übermäßige Fürsorge für die Zukunft haben dazu geführt, daß man diejenigen Lebensbedingungen zu optimieren versuchte, die man als erstrebenswert für sich selbst und damit auch für alle zukünftigen Generationen erachtete. Erst die Überschätzung der eigenen Wissens- und Bewertungskompetenzen haben im Übereifer Handlungsfolgen geschaffen, die uns heute als ökologische Probleme begegnen.
Hans Jonas’ kategorischer Imperativ seiner Verantwortungsethik "Gefährde
nicht die Bedingungen für den indefiniten Fortbestand der Menschheit
auf Erden."[12] gibt Hinweise auf ein diesbezüglich
angemessenes differenziertes Zeitbewußtsein. Nicht Fortschritt oder
Optimierung, sondern Erhalt von Lebensbedingungen ist das Ziel seiner Verantwortungsethik.
Daher wäre anstelle der linear-progressiven Zeitstruktur eine unbegrenzte
linear-konstante Zeitstruktur für die notwendigen Lebensbedingungen
zu setzen. Jonas’ emotionale Balance aus heuristischer Furcht und Hoffnung[13]
schärft nicht nur die Aufmerksamkeit für mögliche Bedrohungen
der Lebensbedingungen und motiviert in diesen Fällen zur Handlung,
sondern vermeidet insbesondere pauschalisierte Grundstimmungen, die zu
einseitigem linear-degressiven oder linear-progressivem Zeitbewußtsein
führen. Darüber hinausgehende Optimierungsmöglichkeiten
sind angesichts unseres begrenzten Wissens mit "verantwortlicher Zurückhaltung"[14]
zu behandeln. Unsere fürsorgliche Verantwortung sollten wir darauf
richten, einschneidende und irreversible Veränderungen der Lebensbedingungen
möglichst zu vermeiden. Wir sind nicht dafür verantwortlich,
die Lebensbedingungen unserer Kinder und Kindeskinder nach unseren beschränkten
Vorstellungen zu optimieren. Aber wir sind dafür verantwortlich, Optionen
für deren eigenverantwortliche Lebensgestaltungen offen zu halten.
Für diesen Bereich konkreter Lebensgestaltung ist daher eine linear-zukunftsoffene
Struktur das angemessene Zeitbewußtsein.
[1] Vgl. z.B. M. Held, A. Geißler (Hg.): Ökologie der Zeit. Vom Finden der rechten Zeitmaße, Stuttgart 1993.
[2] Augustinus: Confessiones, 11. Buch; W. James: "The perception of Time", in: Journal of Speculative Philosophy, 20 (1886), 374-407; ders.: Principles of Psychology, New York 1890; E. Husserl: "Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins", in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. 9 (1928), 367-498.
[3] Vgl. dazu außerdem auch H. Bergson: Essai sur les données immédiates de la conscience, Paris 1889.
[4] Vgl. auch I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 49-50.
[5] Vgl. z.B. R. Wendorff: Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, Opladen 1980; ders.: Dritte Welt und westliche Zivilisation, Opladen 1984; ders.: "Zeitbewußtsein in Entwicklungsländern", in: ders. (Hg.), Im Netz der Zeit. Menschliches Zeiterleben interdisziplinär, Stuttgart 1989, S. 105-117. Zum archaischen Ursprung des zyklischen Zeitbewußtseins vgl. insbes. M. Eliade, Le mythe de l'éternel retour. Archétypes et répétition, Paris 1949 [dt.: Der Mythos der ewigen Widerkehr, Düsseldorf 1953].
[6] In diesem Sinne wäre übrigens Heideggers Zeitverständnis, das er aus der Gestimmtheit der Sorge und der Antizipation des eigenen Todes heraus entwickelt, nur ein Spezialfall; vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, Halle 1927 (Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. 8); Der Begriff der Zeit. Vortrag vor der Marburger Theologenschaft, Tübingen 1989. In den allgemeinen Kontext würde ich auch alle neueren, postmodernistischen Stimmen vom "Ende der Zeit" einordnen, die in enttäuschten politischen Fortschrittshoffnungen gründen (vgl. z.B. einige der Beiträge in D. Kamper & Chr. Wulf (Hg.): Die sterbende Zeit. Zwanzig Diagnosen, Darmstadt/Neuwied 1987). Die Universalisierung einer Zeitstruktur kann auch pathologische Züge annehmen, wenn etwa Personenzeit und Geschichtszeit so miteinander verknüpft werden, daß mit dem zeitlichen Ende der Person auch das Ende der Geschichte angenommen wird (vgl. H. Blumenberg, Lebenszeit und Geschichtszeit, Frankfurt a. M. 1986, S. 80-85).
[7] Vgl. z.B. Held & Geißler (Hg.), Ökologie der Zeit.
[8] Vgl. S. Preuss: Umweltkatastrophe Mensch. Über unsere Grenzen und Möglichkeiten, ökologisch bewußt zu handeln, Heidelberg 1991, Teil II.
[9] Vgl. L. Kruse: "Katastrophe und Erholung – Die Natur in der umweltpsychologischen Forschung", in: G. Großklaus, E. Oldemeyer (Hg.): Natur als Gegenwelt, Karlsruhe 1983, S. 121-135. Einen Überblick über die Umweltpsychologie gibt auch H.-J. Seel, R. Sichler, B. Fischerlehner (Hg.): Mensch – Natur. Zur Psychologie einer problematischen Beziehung, Opladen 1993.
[10] H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1979; insbesondere die Utopie-Kritik in Kap. 6.
[11] Vgl. Wendorff: Zeit und Kultur, S. 321 ff.
[12] Jonas: Das Prinzip Verantwortung, S. 36.